Vortrag Dr. Gerald Jasbar, Ulm am 23.10.1993

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

eine Kleinstadt feiert ihr 1200 jähriges Bestehen und macht mit einem ungewöhnlichen Projekt auf sich aufmerksam. Als Urheber verantwortlich zeichnet Manfred Laber, der das Kunstwerk erdacht und wohl erst nach langen Diskussionen bei den Stadtvätern durchgesetzt hat.
Was hier in Wemding, in dieser alten Kulturlandschaft des Ries, entsteht, ist Kunstwerk und Denkmal zugleich. Denkmal aber nicht im Sinn bildhafter Illustration von Ereignissen der Geschichte, sondern als Zeichen und Symbol für Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.
Wert und Sinn eines personalisierten Denkmals werden seit der französischen Revolution in Frage gestellt. Schon in der antiken Welt wurden wie auch immer verdiente Persönlichkeiten, seien es Herrscher, Feldherren oder Philosophen, mit einem Denkmal geehrt. Monumente für die Ewigkeit, die von ruhmreichen Taten zeugen. Der Triumphbogen Kaiser Konstantins, die Trojansäule, das Reiterstandbild Marc Aurels legen beredtes Zeugnis ab. Diese Reihe ließe sich bis in die Kaiser-Wilhelm-Zeit fortsetzen. Historische Jubiläen im besonderen wurden durch große Festzüge gefeiert, die besonders im 19. Jahrhundert, was Pracht und Pomp anbelangt, nicht mehr zu überbieten waren. So wurde in Ulm die Gründung des Münsters, damals zum nationalen Denkmal hochstilisiert, 1877 mit einem spektakulären historischen Festzug zelebriert.
Die Zeit der Festzüge ist heute passe. Der Mensch unseres Jahrhunderts hat sein unbefangen-naives Geschichtsbild abgestreift, sieht die Geschichte mit nüchternem, wenn nicht kritischem Blick, hat die "gute alte Zeit" längst als Märchen entlarvt.
Nur aus diesem Geist heraus ist der Bau der Wemdinger Skulptur zu verstehen. Es entsteht hier ein Monument, das Geschichte nicht heroisiert, sondern auf Verstand, Geist und Phantasie setzt. Friedrich Nietzsche hat in seiner berühmten Schrift "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" den Wert von Geschichte relativiert, weil der historische Wissensstoff das eigentliche Leben zu ersticken droht. Von dieser negativen Kritik haben wir uns heute entfernt. Wir wollen mit unserer Geschichte leben, nicht im Sinn oberflächlicher Wissensanhäufung, sondern als inspirierender Faktor des Bewußtseins, als unverzichtbarer Teil eines menschenwürdigen Lebens.
Die von Manfred Laber konzipierte Skulptur folgt einfachen, klaren Gedanken, die für jedermann nachvollziehbar sind. Gleich große Elemente werden nach dem seriellen Prinzip neben- und übereinander gesetzt. Das einzelne Modul behält durch den entsprechenden räumlichen Abstand seine Selbständigkeit, ordnet sich aber gleichzeitig dem Ganzen unter. Innerhalb des Systems gibt es keine Hierarchie, sondern nur die gleichmäßige Abfolge von kubischen Formen. Der archimedische Punkt des arithmetischen Konzepts ist die Zahl 1200: vor 1200 Jahren wurde Wemding gegründet. Der zehnte Teil ergibt 120, das ist die Zahl der Quader, die für die Errichtung der Skulptur nötig ist. Das Maß der Blöcke leitet sich wiederum aus der Zahl 120 ab, sie haben ein Seitenmaß von 120 cm und sind 180 cm hoch. Alle 10 Jahre kommt ein Block hinzu. Das im Jahr 3193 vollendete, dann 7,20 m hohe Denkmal zeigt die Form einer Pyramide auf vier Ebenen: außen acht mal acht, ganz innen zwei mal zwei Quader.
Die mathematisch errechenbare Struktur ist nicht Selbstzweck, sondern beruht auf einer Ästhetik, die das Werk vieler Künstler des 20. Jahrhunderts beeinflußt hat. Ausgehende von den russischen Konstruktivisten wie Malewitsch und Tatlin über die Konkreten Bill und Albers bis zu den Künstlern der Minimal Art wird eine Ästhetik des Objektiven, der logischen Stimmigkeit als Maßstab von Kunst gesetzt: Metapher für die Ordnung des Kosmos schlechthin.
Die Zeitpyramide Manfred Labers knüpft an diese Tradition an. Was hier entsteht, ist aber keineswegs Reproduktion von Bekanntem. Vielmehr werden die gestalterischen Mittel des Konstruktivismus dazu benutzt, eine Idee zu realisieren, wie sie wohl ohne Beispiel ist.
Nicht Cararra-Marmor oder Granit, Materialien für hehre Denkmäler, sondern Beton ist der verwendete Werkstoff und vom Künstler ganz bewußt ausgewählt. Beton wird künstlich hergestellt, setzt einen Kontrapunkt zur natürlichen Umwelt und entzieht sich durch seine neutrale Oberfläche jeder pathetischen Gefühlsregung des modernen Betrachters. Ohne Umschweife sollen die Gedanken auf den Punkt kommen.
Niemand kann heute voraussagen, ob die Realisierung des Projekts gelingen wird. Utopische Zeiträume sind zu durchmessen. Nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche im Sinn von Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" wird an der Wemdinger Zeitpyramide durchgespielt. Das beinhaltet zugleich das Risiko des Scheiterns. Solange die Skulptur nicht zu Ende gebaut ist, wird dieser Schwebezustand bleiben. Es ist wie bei einer Expedition in unbekanntes Terrain. Aber das Faszinierende ist der Weg, nicht das Ziel im Sinne eines Ergebnisses.
Das Besondere des Monuments liegt in seiner Offenheit und in seinem gedanklichen Reichtum. Der moderne Mensch findet hier einen Platz, fern von Getümmel und Hektik, der ihn stimuliert, seinen Geist spazieren zu führen: zu dem, was unabänderlich geschehen ist, und zu dem, was in Zukunft vielleicht sein wird. Unberührt von den Zeitläufen wird die Wemdinger Pyramide wachsen, langsam zwar, aber stetig. Dies setzt Optimismus und Vertrauen in die Zukunft voraus. So ist das hier entstehende Werk zugleich als Metapher des Prinzips Hoffnung zu verstehen, ohne die menschliches Leben verkümmern würde.
Mögen sich in Zukunft immer Menschen finden, die zur Vollendung der Pyramide beitragen, und möge der Strom der Besucher nie abreißen, die hierher kommen, um zu sehen und zu staunen - wie einst die Pilger in der barocken Wallfahrtskirche.