Vortrag Veit Steinacker, M.A., Kunsthistoriker am 23.10.1993

Es gibt keine andere Gegenwart als Dich, Gegenwart, und die Gegenwart ist Dein Prophet.
E.Hemingway



Wer beginnt,über die Zeit zu reflektieren, sieht sich sehr bald einer Dimension gegenübergestellt, die, im Versuch sie begrifflich zu erfassen, wie in einer Art Kreisbewegung wieder und wieder entzieht. Zeit erscheint in ihrer Natur des Zeitlichen, als das nicht umkehrbare und nicht wiederholbare Nacheinander, das uns als eine Abfolge von Veränderungen und Ereignissen bewußt wird. Selbst der gegenwärtige Augenblick, das Jetzt als dem Fixpunkt des Zeitstroms, zerlegt sich durch die Beobachtung von Dauer und Wandel in ein Vorher und in ein Nachher.
Die Philosophie spricht von der Zeit als von einem wesentlich transzendentalen Begriff, das d. h. als einer Anschauungs- und Ordnungsform des Bewußtseins selbst, welche grundlegende Bedingung für das Vernehmen oder Sprechen von Sein ist. Zeit also ist Bedingung der Möglichkeit von Dasein; Zeit und Raum sind die Existenzformen jeder Wirklichkeit. In ihnen vollziehen sich alle physischen und psychischen Prozeße. In jeder Lebensäußerung verhält sich der Mensch bewußt oder unbewußt, in der einen oder anderen Weise zu Zeit und Raum.
Andererseits aber haftet etwas von einem Mysterium am Wesen der Zeit, das es zu einem noch größeren Rätsel macht als dem des Raumes und der Materie. Zwar hat auch die Zeit mit der Bewegung im Raum zu tun (auf ihr beruht von alters her die Zeitmessung) aber in einem viel grundlegenderem Maße als die äußeren Bewegungen der Materie. Die Zeit ist eine Bewegung, die auf unser inneres Sein einwirkt, ein Ablauf den wir an unserem Ich spüren, weitgehend unabhängig vom Kontakt unser fünf Sinne mit der Außenwelt.

Die Stadt Wemding begeht in diesem Jahr ihr 12OO Jahrjubiläum. Eine Stadt blickt zurück auf ihre Vergangenheit, schmückt sich zu einem Erlebnisraum und versammelt die Bevölkerung zu einer Feier von Lebenszeit und Geschichte.
Geschichtsbewußtsein wird aktualisiert zur Bewältigung der Gegenwart; die Zeit der Vergangenheit wird Erlebniszeit des Augenblicks.
Der enorme Zeitraum von 12OO Jahren bzw. die Reflexionen mit dem Umgang dieser Dimension ist auch eine der Voraussetzungen für die Verwirklichung eines Projektes zeitgenössischer Kunst, das mit dem heutigen Tag, dem Tag der ersten Steinsetzung, beginnt als Verwirklichung seiner selbst in die Zeit zu treten. Die "Wemdinger Zeitpyramide" ist nicht ein gewöhnliches Denkmal im Sinne eines Trägers repräsentativer Autorität, sondern sie verwirklicht als konzeptionelles Monument den Bildgedanken von einer Konstruktion des geistig-abstrakten Gehaltes der Zeit. Zeit in ihrem Fluß der Zeitlichkeit immer neuen Werdens und Vergehens wird periodisches Bild, Form der Anschauung, Form des Umgangs mit Zeit.
Die Zeit als Phänomen wird projeziert zu einer konkreten Vision vom Bau einer nichtvorstellbaren Epoche von 12OO zukünftigen Jahren. Das utopische Element dieser Konzeption ist so offensichtlich wie beabsichtigt. Es zeitigt sich in ihm die Nähe zu monumentalisierten Bauwerken, den Pyramiden, den gotischen Kathedralen, gerade auch in ihrer Konstruktion des An- und übereinandertürmens als Ausdruck einer überzeitlichen Daseinsmacht.
Schöpfer und Stifter dieses Werkes ist der heimische Künstler Manfred Laber.

In der Form ihrer Realisierung veranschaulicht sich die Zeitpyramide als ein Werk der sog. Prozeßkunst, die die Bedingungen und Strukturen möglcher Sinnkonstitutionen von Zeit und Raum ästhetisch reflektiert. Jenseits der Symbolik läßt ihre formale Disposition Analogien zu Sprachmitteln der konkreten Kunst erkennen.
Vielleicht ist es zum Verständnis der Formensprache der Zeitpyramide zunächst ganz hilfreich einige Wesenselemente konkreter Kunst kurz zu benennen. Unter dem Aspekt von Kunst und Wirklichkeit steht die Forderung der konkreten Kunst nach einer vollkommenen Abstraktion, d. h. nach einer gänzlichen Ausschaltung der sinnlichen Wahrnehmung der sichtbaren Wirklichkeit. An ihre Stelle tritt die Realisierung bildnerischer Sprachmittel, die nichts anderes darstellen will, als sich selbst und die als Ausdruck geistiger Konzentration auf wenige Grundelemente reduziert werden: Auf die Linie, den rechten Winkel, die Diagonale, auf die geometrischen Figuren, Dreieck, Kreis, Quadrat usw. Postuliert wird von der konkreten Kunst die allgemeinen Strukturen der Wirklichkeit an ihren optischen Konstanten bloßzulegen. Jede subjektive Handschrift, jede Manier oder Form der Sentimentalität wird von ihr ausdrücklich ausgeschlossen.
Konkrete Kunst stellt nichts Außerbildliches dar, sie ist ein "Verfahren der Ver-wirklichung". Ein konkretes Werk ist, was es ist. Es ist identisch mit dem, was es als Objekt präsentiert. Der Gehalt ästhetischer Form erscheint in ihr allein aus den Elementen ihrer bildnerischen Mittel und gibt erst dann für den Betrachter Sprache frei, wenn er sie in geeigneten/anschließbaren Kommunikationsprozeßen befragt.
Die Wemdinger Zeitpyramide setzt sich im allgemeinen die Forderungen konkreter Kunst zu Ausgangspunkt, reflektiert und transformiert diese gleichwohl in ihrem symbolischen, prozeßhaften Rückbezug auf die Zeitdimension.
In ihren formalen Ausrichtung verfolgt die Zeitskulptur mit einer nahezu mathematischen Präzision strenge geometrische Regeln; sie komponiert diese Regeln gemäß ihrer Gliederung in einer übersichtlich lesbaren, visuellen Ordnung. Die auf Grundelemente reduzierte Formensprache, wie sie die Konstruktioen im Einzelnen wie im Ganzen umfasst, bekundet einen asketischen Formwillen der sich gleichwohl innerhalb ihrer rationalen Sprache aus Fläche, Linie, Rechteck, Quadrat und Diagonale als elementar zeichnerischer wie plastischer Kanon fein zu- und gegeneinander zu rhythmisieren weiß. Im Ablauf ihrer prozeßbedingten Organisation bildet die Zeitskulptur auf einer quadratischen Trägerplatte als dem bühnenartigen Fundament ihrer Tektonik, ein zusammengefügtes wie bewegliches Stufengefüge, dessen Teile so ineinandergreifen, daß sie analog ihrer leitenden Bildidee in einem räumlich dynamischen wie zeitlich numerischen Sinne aufeinander abgestimmt und voneinander abhängig sind. Jedes einzelne Element, der einzelne Kubus mit seinem Symbolwert, hat seine besondere Aufgabe für das Ganze. Form, Raum und Zeit verschmelzen zu Identitäten, bilden untereinander die Konstanten eines konkreten visuellen Zusammenhanges aus.

Die Zeitpyramide repräsentiert sich über nichts anderes als über die Konstitution ihrer formalen Organisation selbst; sie thematisiert sich rein aus der konkreten Natur ihrer Kunstmittel.
über die Beschränkung der formalen Struktur auf Grundelemente visueller Sprache sowie aus der Anschaulichkeit zeitloser Schönheit geometrischer Beziehungen untereinander, entstehen allein über den Wahrnehmungsvorgang lebendige Beziehungen, Möglichkeiten assoziativer Kommunikation. überdies birgt die Potenzialität ihrer elementaren Formessenz eine überindividuelle, geistige Wirklichkeitsstruktur. Zahl und geometrische Figur in der reinen Form des einfachen Regelmaßes bergen von alters her Vorstellungen kosmischer Ordnung. Sie lieferten die ältesten Symbole nicht nur unserer Kultur.
Aber man würde das Projekt der Zeitpyramide einseitig betonen, sähe man in ihm allein ein Artefakt des objektivierenden Geistes. Durch den gewählten Standort auf der "Platte" am Riesrand oberhalb der Stadt Wemding wird sich die Zeitskulptur an exponierter Stelle in der freien Natur erheben. Damit gewinnt die Semantik der Zeitpyramide eine neue und weitere Bezugsgröße, insofern als sich dadurch eine Dialektik zwischen rationaler Konstruktion und dem wechselreichen Leben schaffenden wie Leben verzehrenden Strom der Natur und der Geschichte eröffnet.
Der Standort verdeutlicht den Bezug der Pyramide; er gibt Sicht auf die Stadt Wemding mit ihren heute noch sichtbaren Zeugnissen ihrer Geschichte von der Romantik, dem Barock bis zur heutigen Zeit. über sanft schwellende Hügel führt der Blick über die Wallfahrtskirche "Maria Brünnlein zum Trost" hin in die Weite der sich öffnenden Rieslandschaft, einer Region, die allein schon in der geschichtlichen Tatsache ihrer Entstehung durch einen Meteoriteneinschlag vor Millionen von Jahren, Zeit als Dimension und menschliche Kultur als geschichtlichen Raum offenbart. Dieser Bezug der Zeitskulptur wie er abschließend umspannt ist von der Gegenwart der großen Himmel über dem Ries erstellt den Sprachraum für den Kommunikationsprozeß des Betrachters.
Innerhalb dieses Raumes ermöglicht sich eine Art der Begegnung mit den Dimensionen von Zeit und Raum, die im Prozeß der bloßen Anschauung allein sich aus der Innenstruktur des menschlichen Bewußtseins erfahren läßt. Die Dimension von Zeit und Raum betrachtet sich gewissermaßen selbst im inneren Bewußtsein des Menschen. Ein Akt der Betrachtung, der Zeit in ihrem mythischen, numinosen Charakter erfährt, ein Akt der Anschauung, der die Veränderungen und Vorgänge um und in sich intuitiv sammelt und als Bewußtseinsmomente zum Gegenstand ihrer selbst macht. Für diese Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozeße, in denen das Phänomen Zeit sozusagen selbst erscheint, steht die Zeitpyramide als konstruktives Motiv, als das Gerüst ihrer Ermöglichung. In ihr wird die Zeit als Dimension Form der inneren Anschauung.
Indem die Pyramide Zeiträume umspannt, die über unsere persönliche Zeit weit hinausgreift, wird sie viele Generationen umfassen und verbinden. Durch die ungewöhnliche Art ihrer Realisierung ist ein Gemeinschaftswerk das Geschichtsbewußtsein in geradezu familiärer Nähe erfahren läßt: Wemdinger, ihre Kind und Kindeskinder werden zu ihrer jeweiligen Zeit beteiligt sein und so in Verbindung miteinander stehen. Die Bedeutung des Werkes ist so wesentlich mitbestimmt durch den Prozeß ihres Entstehens, der für die jeweilige Bevölkerung Wemdings wie eine Art Eigengift wirkt, die zum Handeln zwingt.
In diesem ihrem soziologischen Aspekt beinhaltet die Zeitskulptur eine ästhetisch-gesellschaftliche Modellfunktion, kollektive Bedürfnisse auf Dauer zu konzentrieren und auf dem Gebiet der Kunst zu verwirklichen. Insofern ist der allmähliche Prozeß der Realisierung der Zeitpyramide nicht Ausdruck des Nachvollzuges ihres vorgegebenen Musters, sondern erfüllt sich im Akt des Mitvollzuges, Zeit als Raum der Erinnerung, Zeit als Raum kommender Zeit neu und neu zu aktualisieren. So unterliegt die Zeitrechnung der Pyramide nicht einen linearen Ablauf, sondern erfolgt vielmehr als Periodisierung im Sinne eines zyklischen Rhythmus.

Die Zeit der Zeitpyramide wird sich bemessen als Zustand der Dauer. Dauer bedeutet Beständigkeit ; sie vermag den Zustand einer Wesenseinheit der Dinge im Dasein zu besagen.
Für mich persönlich bedeutet das Projekt der Zeitpyramide eine meditative, nahezu kultische Zeichensetzung. Es verdeutlicht sich mir als eine monumentale Konstruktion des inneren Gleichgewichtes der Zeit, als Bild reiner Relationen in die Zukunft.


Veit Steinacker