DIE WEMDINGER ZEITPYRAMIDE
Foto: Erich Rieder
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Vortrag von Dr. Mathias Listl, Kurator des Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt anlässlich der 4. Steinsetzung |
Speech by Dr. Mathias Listl, curator of the Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt on the occasion of the fourth block placement of Time Pyramid, on September 9, 2023 in Wemding |
Auf einen ersten Blick mag es vielleicht nur als eine „spinnerte“ Idee erscheinen, hier am Rande des Nördlinger Ries eine Pyramide bauen zu wollen und das nicht sozusagen auf einen Rutsch, sondern gestreckt auf nicht weniger als 1200 Jahre. Kaum verwunderlich ist es daher, dass viele Wemdinger vor nun bereits über 30 Jahren dieser – wie Sie wissen – natürlich bedeutend vielschichtigeren Idee von Manfred Laber erst einmal skeptisch, mitunter auch ablehnend, vielleicht sogar feindlich gegenüberstanden. Je länger ich mich für die Vorbereitung meiner kleinen Ansprache mit diesem extremen Langzeitvorhaben beschäftigt habe, desto komplexer, geschickt durchdachter und auf so vielen Ebenen mit den gesellschaftlichen wie auch kunstgeschichtlichen Entwicklungen der Nachkriegsjahrzehnte bis heute verknüpft erscheint mir das Ganze aber. Und diese Erkenntnis, dass wir hier heute nicht nur an der Weiterführung einer „spinnerten“ oder nur kuriosen, auf das Brechen eines oberflächlichen Rekords etwa ausgerichteten Idee beiwohnen, sondern an einem künstlerisch äußerst durchdachten, in die ferne Zukunft gerichteten Gemeinschaftsprojekt teilnehmen, hat sich auch in Wemding schnell durchgesetzt – was nicht zuletzt Ihr so zahlreicher Besuch heute zeigt. |
At first glance it may seem just a “crazy” idea to build a pyramid here at the edge of the impact crater Nördlinger Ries. And not to do so in one go, but rather stretched out over no less than 1200 years. So, it hardly comes as a surprise that many people in Wemding 30 years ago, initially were quite sceptical, at times dismissive, maybe even hostile to this - of course far more multi-layered - idea of Manfred Laber. However, the longer I have been dealing with this extremely long-term enterprise in the course of preparing my little speech, so the more complex, intricately conceived, and interlinked with the social as well as art-historical developments of the post-war era up to now the whole undertaking strikes me. And this insight, namely that it is not only a “whimsical” or merely quaint brainchild just aiming at breaking a superficial record that we are faced with, but rather an artistically sophisticated community project directed at the deeper future, has also quickly gained ground in Wemding, as is demonstrated by so many of you turning up today. |
Denn ausgehend vom 1200-jährigen Jubiläum seines Heimatortes, in dem er zuvor nicht gerne und allzu oft als Künstler in Erscheinung getreten war, hat Manfred Laber mehr als geschickt und subtil die ideellen Grundkomponenten Zeit, Erinnerung und Vergänglichkeit sowie Gemeinschaft mit Hilfe von Ansätzen der Konkreten Kunst, der Konzeptkunst wie auch der Land und Minimal Art zu einem spannenden sozialen wie künstlerischen Langzeitexperiment mit offenem Ende ineinander verschränkt. |
This is because starting from the 1200 years’ anniversary of his hometown, where he previously rarely had made an appearance as an artist, Manfred Laber skillfully and subtly combined the intrinsic basic components of time, remembrance, and transitoriness as well as community with the aid of approaches of Concrete Art, Conceptual Art, as well as Land and Minimal Art into an exciting social and artistic long-term experiment with an open outcome. |
Da ist zum einen die soziale Komponente, die mir zunächst als wesentliche Basis des ganzen Unternehmens erscheint: Es gilt nicht weniger als die schwierige Aufgabe zu bewerkstelligen, über 1200 Jahre hinweg immer wieder eine Gruppe von Wemdingerinnen und Wemdinger für die Zeitpyramide zu begeistern und so - von Generation zu Generation - das Feuer für das Projekt und nicht seine Asche immer wieder aufs Neue weiterzugeben. Bereits nach drei Jahrzehnten und mit heute vier Steinsetzungen kann man sagen, dass sich erste positive Effekte durch die Zeitpyramide für Ihre Gemeinschaft deutlich abzeichnen. Manfred Labers Idee hat sich etabliert und bereits ihre eigene Tradition ausgeprägt, die das Gemeinschaftsgefühl sowohl durch die kollektive Erinnerung wie auch den gemeinsamen Blick nach vorne enorm stärkt. Bereits jetzt teilt man hier – wie mir gesagt worden ist – die Jahre nach den Steinsetzungen ein, spricht beispielsweise von „einem Jahr vor oder einem nach der Steinsetzung“ oder erinnert sich daran, an welchen Steinsetzungen man selbst teilgenommen und welche man verpasst hat und aus welchen Gründen – vergleichbar etwa wie in Gemeinden, in denen in bestimmten Abständen Passionsspiele abgehalten werden. Jugendliche und junge Erwachsene in Wemding wiederum können sich schon gar nicht mehr an eine Zeit ohne Pyramide erinnern und betrachten dieses künstlerische Projekt daher ganz selbstverständlich als festen Bestandteil und identitätsstiftende Besonderheit ihres Heimatortes. Die Zeitpyramide ist also im übertragenen Sinne schon als Teil der DNA des Ortes und seiner Bewohner zu begreifen. Und schließlich fühlen Sie sich alle – das unterstelle ich jetzt einfach einmal – mit fernen Generationen von Wemdingerinnen und Wemdingern unsichtbar verbunden und denken darüber nach, mit welchen Problemen sich ihre Nach-Nach-Nachfahren herumschlagen müssen bzw. ob es sie und ihren Ort in dieser fernen Zukunft überhaupt noch gibt. |
There is, on the one hand, the social aspect which strikes me as the essential base of the entire undertaking, to start with: The challenge consists in nothing less than, over a period of 1200 years, repeatedly enthusing some people in Wemding to keep „Zeitpyramide“ (“Time Pyramid”) going and thus to pass on the torch rather than its ashes over and over again. As early as three decades into the project and with, as to date, four block placements, one can state that first positive effects for your community have clearly emerged. The idea of Manfred Laber has taken root and already gained the momentum of a tradition in itself, which strongly fosters both community spirit by collective remembering and the common view ahead, alike. Already now – as I was told – here, time is divided according to block placements. People speak for instance of „one year before or after the block placement“ or remember which of the block placements they attended and which one they missed and why – similar to communities celebrating passion plays at certain intervals. Young people in Wemding may not even remember times without the pyramid, and as a matter of course identify with this art project as a fixed integral part and peculiarity of their hometown. Accordingly, in the figurative sense, Time Pyramid is to be taken already as part of the DNA of the place and its inhabitants. And after all – I simply make this presumption – you all feel invisibly connected with future generations of Wemdingers and think about the problems your descendants and theirs, in turn, will be facing, for instance if they and this place will still exist in the deep future at all. |
Manfred Laber hat – und damit sind wir bei einer weiteren Komponente der Zeitpyramide – Wemding kein fix und fertiges Kunstwerk, sondern Ihnen allen eine Aufgabe hinterlassen, also – ganz im Sinne der ab den 1960er-Jahren entstandenen Konzeptkunst – nur die eigene Idee und einige grundsätzliche Anweisungen in den Ring geworfen, die Ausführung wiederum an Sie und die Ihnen nachfolgenden Generationen übertragen. War der Künstler bei den ersten drei Steinsetzungen noch persönlich anwesend und an den Ausführungen entscheidend beteiligt, so tritt dieser konzeptuelle Gedanke der Zeitpyramide, sprich die Trennung von Idee und ihrer Ausführung, gerade heute, bei der ersten Steinsetzung ohne ihn, deutlich und im Gedenken an ihn schmerzlich in den Vordergrund. Von nun an gilt es, ganz ohne den anfänglichen Ideengeber weiterzubauen und mitunter auch eigene Entscheidungen zu treffen – aber nicht anders hätte es sich Manfred Laber gewünscht. Oder anders ausgedrückt: er hat die Zeitpyramide auch klar in diesem Bewusstsein konzipiert. |
Taking us to a further aspect of Time Pyramid, Manfred Laber has not left a completed art work to the town of Wemding. Rather he encumbered all of you with a task, that is – in the very vein of Conceptual Art, which came up in the 1960s – he only provided his own idea or concept and some basic instructions, whilst leaving it up to you and subsequent generations to execute them. Whereas the artist was still attending the first three block placements in person and was a major factor involved in their performance, today he is sorely missed, thus bringing the separation of the idea and its realization clearly to the fore. As from now, the challenge is to carry on with the construction without the initial provider of the idea and this also means making decisions of one’s own at times – but this would have been entirely fine with Manfred Laber. In other words, he clearly conceived Time Pyramid with this awareness. |
Ganz bewusst hat der Künstler für die Zeitpyramide wiederum auch diese Stelle mitten in der Natur und nicht im Ort selbst ausgewählt. Dieser Standort nahe des Ortsrands und mit weitem Blick über das Nördlinger Ries verleiht dem Projekt dadurch auch Züge der Land Art, die – wie die Konzeptkunst – ihre Anfänge ebenfalls in den 1960er-Jahren hat. Nicht im geschützten Kontext eines Museums oder auf einem Denkmalsockel mitten in der Zivilisation, sondern als weithin sichtbares Zeichen in der Landschaft soll sie – in fernerer Zukunft zumindest – wahrgenommen werden und schon von weitem sichtbar sein. Und auch wenn die Wahl des Betons als Baumaterial nicht unbedingt mit der Land Art in Einklang zu bringen ist, die ja gewöhnlich mit ungleich vergänglicheren Werkstoffen wie etwa Lehm und Holz arbeitet, so kann auch dieser Werkstoff die Funktion eines Spiegels der Zeit erfüllen, der gleichzeitig – soll die Pyramide 1200 Jahre und länger Bestand haben – ja auch eine gewisse Festigkeit und Dauerhaftigkeit aufweisen muss. Aber auch bereits nach drei, zwei bzw. einem Jahrzehnt haben sich die vormals cleanen Betonkuben auf ihrer Oberfläche schon entscheidend verändert – so etwa durch kleine Rostflecken, Moose und ähnliche Mikroorganismen, die sich auf ihnen angesiedelt haben. Dadurch bilden die einzelnen Kuben eine Parallele zu Manfred Labers Materialbildern, die er – jeweils natürlich für einen viel kürzeren Zeitraum – Wind und Wetter ausgesetzt hatte, um so die Natur als spielentscheidenden wie unkalkulierbaren ästhetischen Faktor und Formgeber mit in seine Kunst einzubinden. |
It was a very deliberate and conscious decision of the artist to locate Time Pyramid at this site in the midst of nature and not in the town itself. This location at some distance from the town’s periphery and with a vast view over the meteorite impact crater Nördlinger Ries imparts the project with features of Land Art, which – like Conceptual Art – equally emerged in the 1960s. It is not presented in the protected context of a museum or on a monument pedestal in the midst of civilization, but rather as a sign in the landscape, meant to be perceived from far away at least some time in the future. And even if concrete as material is not exactly associated with Land Art, which commonly works with clay and wood, the choice even of this material may fulfil the function of a mirror of time: if the pyramid is meant to last for 1200 years and longer, this material must have a certain solidity and durability. However, even after only three, two or one decade, respectively, the previously clean surfaces of the concrete cubes show clear signs of change – such as small patches of rust, moss, and similar microorganisms which have settled upon them. Thereby the individual cubes are in parallel with Manfred Laber’s material pictures, which he had usually exposed for – of course much shorter – periods of time to wind and weather conditions to thus involve nature as a crucial as well as an unpredictable aesthetic formative factor in his art. |
Was wiederum die grundsätzliche Ästhetik der Zeitpyramide betrifft, kommt nun auch die Konkrete Kunst bzw. die Minimal Art ins Spiel. Die streng geometrische Formensprache der einzelnen Kuben wie auch ihr viergeschossiges Zusammenspiel als Pyramide entsprechen voll und ganz diesen Kunstrichtungen, die nichts darstellen oder abbilden, sondern Formen und Farben für sich selbst stehend in den Mittelpunkt rücken wollen. Typisch insbesondere für die Konkrete Kunst ist schließlich auch die der Zeitpyramide einbeschriebene Zahlensymbolik bzw. die äußerst geschickte räumliche Anordnung von 120 Einzelkuben zu einer sich nach oben hin verjüngenden, in vier Geschossen abgestuften Versuchsanordnung mit vielen Unbekannten. |
As far as the general aesthetics of Time Pyramid is concerned, now also Concrete Art or, as it were, Minimal Art comes into play. The strictly geometric use of the shape of the individual cubes as well as their four-storey setup as a pyramid is entirely in line with these art movements, which do not represent or depict anything, but rather aim at focusing on shapes and colors as standing for themselves. Typical in particular of Concrete Art is finally also the number symbolism or the extremely neat spatial arrangement of 120 individual cubes forming an experimental arrangement staggered in four levels with many unknowns. |
Diese – potentiell unendlich vielen – Unbekannten in der Gleichung Zeitpyramide bringen schließlich ihre fünfte wesentliche Komponente oder Dimension mit sich, nämlich die Zeit und ihr unerbittliches Verrinnen. Mit der Projektion der 1200 Jahre, auf die Wemding 1993 als Ort zurückblicken konnte, in die Zukunft schuf Manfred Laber einen Zeitmesser der ganz besonderen Art. Dessen kleinste angezeigte Einheiten sind dabei keine Sekunden oder sogar Millisekunden, sondern Zeiträume von ganzen zehn Jahren. Wenn Sie auch ästhetisch der Minimal Art zuzurechnen ist, kann man die Zeitpyramide mit den Worten meiner „Vorrednerin“ Kerstin Specht, die vor zehn Jahren anlässlich der dritten Steinsetzung an dieser Stelle die Einführung hielt, deshalb ganz zu Recht als eine Maximal Art bezeichnen. Ein Kunstwerk also, das uns über „maximale“ Zeiträume nachdenken lässt, die sich dem menschlichen Zeithorizont entziehen und jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. Damit verdeutlicht der Künstler nicht nur, was es wirklich bedeutet, wenn ein Ort ein derartig langes Bestehen von 1200 Jahren feiern kann. Er konfrontiert uns damit natürlich auch mit Gedanken, die wir im Alltag gerne verdrängen und auf die Seite schieben. Es ist aber nicht nur die eigene Vergänglichkeit bzw. die Relativierung unserer eigenen Lebenszeit bzw. unserer eigenen Bedeutung, der wir uns im Vergleich zu den vielen nach uns folgenden Generationen bewusst werden. Wie schon eingangs erwähnt, ist es auch ein unsichtbares Band mit den Wemdingerinnen und Wemdingern der Zukunft, das sie – im Durchdenken von Manfred Labers Konzept – auf diese Weise immer wieder neu knüpfen: Wie wird es diesen Wemdingerinnen und Wemdingern der Zukunft ergehen? Werden sie das Projekt der Zeitpyramide weiterführen und den Bau sogar vollenden? Und wie wird sich dabei die direkte Umgebung hier auf der Platte sich verändern? Wird sich die Bebauung dereinst um die Pyramide herum ausgedehnt haben oder im Gegenteil der Ort in sich zusammenschrumpfen? |
These – potentially infinite numbers of – unknowns in the equation Time Pyramid finally entail its fifth essential component or dimension, namely time and its relentless passing. By projecting the 1200 years, which Wemding could look back at in the year 1993, into the future Manfred Laber created a very peculiar measure of time. The smallest indicated units in this arrangement are not seconds or even milliseconds, but rather whole decades. Aesthetically it may be a piece of Minimal Art, however, using the words of my predecessor, Kerstin Specht, who delivered the introductory speech ten years ago here on the occasion of the third block placement, Time Pyramid quite rightly may be referred to as Maximal Art. This means a work of art that makes us think about “maximum” temporal dimensions eluding the human temporal horizons and beyond our imagination. Thus, the artist does not only point out what it actually means if a place can celebrate such a long existence of 1200 years. It goes without saying that thereby he confronts us with the thoughts we like to block out or push aside in our everyday lives. It is not only our own mortality or putting our own lifetime or significance in perspective, which we become aware of when relating to the many generations following us. As already mentioned initially, it is also an invisible link to future generations of Wemdingers, which is repeatedly formed and reaffirmed, when reflecting about Manfred Laber’s concept: How will these inhabitants of Wemding fare in the future? Will buildings have grown around the pyramid or, quite the opposite, will the town have shrunk away from it? |
Den Vorstellungen und Möglichkeiten, wie, wann und mit wem sich diese Versuchsanordnung mit unendlichen Möglichkeiten und Unbekannten in Zukunft entwickeln wird, sind letztlich keine Grenzen gesetzt – gerade das aber macht Manfred Labers Konzept so spannend nicht nur für uns, sondern so viele, die auf uns folgen werden. In diesem Sinne wünsche ich nun Ihnen weiterhin eine schöne vierte Steinsetzung und dem ganzen Projekt 116 weitere dieser Art, die ähnlich feierlich begangen werden. |
Ultimately, there are no limits to the imagination and possible scenarios as to how, when, and with whom this experimental arrangement with its infinite possibilities and unknowns will develop in the future. And this is precisely what makes Manfred Laber’s concept so fascinating not only for us, but for so many generations following us. In this sense, I wish you a wonderful fourth block placement and 116 further such events for the whole project to be celebrated with similar joy. |
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Author: Dr. Mathias Listl, Ingolstadt
Last revision: Tue, 05 Dec 2023
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